Noch nie gab es so viele verschiedene Tonträger wie heute,
noch nie war das Gejammer der Phonobranche so groß.
Und was tun die Hörer? Sie finden eigene Wege zur Musik.


Es war bei Wiesenhavern in der Mönckebergstraße, vergangene Woche Montag um fünf: Eine vierköpfige Familie besucht das Hamburger Hi-Fi-Fachgeschäft. Vater, Mutter, großer Sohn und große Tochter. Während die Welt auf einen Krieg zusteuert, sind sie angetrieben von überschüssigem Geld und dem Wunsch, es auszugeben. Musik wollen sie nicht mehr nur von vorn, sondern aus allen Ecken ihres Wohnzimmers hören. Surround!

Der Verkäufer ist ein alter Hase, seit 25 Jahren dabei. Er spielt ihnen eine raumgreifende Satellitenanlage mit zig Lautsprecherchen und einem bulligen Subwoofer vor: klare Höhen, wuchtige Bässe – aber in den Mitten tut sich ein Loch auf. Die Familie ist begeistert von den Höhen und Tiefen, die Tochter juchzt und hopst, bald hat sie im Wohnzimmer eine Disco!

Nun mal was zum Vergleich, sagt der Verkäufer und schaltet auf zwei winzige Boxen einer edlen dänischen Firma um: Mit einem Bruchteil an sichtbarem Aufwand ist der Klang plötzlich luftig, elastisch, rund. Michael Jackson straff, Beethoven voluminös. Die Familie ist verwirrt. Stereo besser als Surround – das hatten sie nicht erwartet. Sie sträuben sich, lassen hin- und herschalten. Der Verkäufer genießt es. Dann setzt er ein großartiges Argument ein: »Sie haben doch nur zwei Ohren. Was wollen Sie da mit fünf Lautsprechern?« Die Tochter hopst noch, der Vater nickt schon. Das Feld zeitgemäßer Heimakustik ist unübersichtlicher, als er gedacht hatte. Der Verkäufer rät ihnen, sich ruhig auch bei der Konkurrenz umzusehen und den Surround-Wunsch zu überschlafen. Wird die Familie wiederkommen? Was wird sie kaufen? Das wird von der Weltlage abhängen, dem Sog der Werbung, dem Gehör. In Handel und Industrie werden viele aufstöhnen wegen dieses Beratungsgespräches. Wen man von einem Fünf- oder sogar Siebenkanalsystem überzeugen kann, dem wird man danach ja passende Tonträger verkaufen können; die kosten richtig Geld, das die Wirtschaft dringend braucht. Auch die Familie sollte das bedenken: Haben die Eltern nicht eben erst die letzten Schallplatten durch CDs ersetzt? Und nun: CD adé, zugunsten von DVD Audio oder SACD, zweier Systeme, deren Lebensdauer noch kürzer sein könnte als die der mal eben 20 Jahre alten CD, und von denen derzeit niemand sagen kann, welches der beiden sich durchsetzen wird, wenn überhaupt. Noch nie in der Geschichte gab es so viele unterschiedliche Tonträger wie heute, und noch nie war die Unsicherheit im Umgang mit ihnen so groß. CD, LP, MC, TB, MD, DAT, DVD, SACD, MP3… Ist es überhaupt noch möglich, sich für ein System oder für wenige Systeme zu entscheiden, oder muss man, wenn man ältere und neuere Musik hören will, ein regalverstopfendes Spektrum an Abspielgeräten vorhalten?


Zigarettenschachteln, die nicht so gut klingen

Manche Leute haben zu Hause seit Urzeiten ein Tonbandgerät stehen und sind zufrieden damit; die Bänder sind inzwischen allerdings recht teuer geworden. Andere haben ihren Plattenspieler nie in den Keller getragen oder holen ihn jetzt wieder herauf, da sie merken, Vinyl lebt, ja ist sogar in Mode – und was das Knistern angeht, wärmt es nicht wie ein Feuer im Kamin?

Dritte werfen gerade ihre Musikcassetten-Sammlung weg und rüsten ihr Auto mit einem CD-Wechsler aus, weil sie noch nicht erfahren haben, wie störanfällig die Technik unterwegs ist, besonders wenn’s im Winter mal feucht wird im Wagen. Wieder andere sind stolz auf zigarettenschachtelgroße MP3-Player, deren über den Computer aus dem Internet heruntergestohlene Musik man aber kaum auf einer guten Anlage hören kann, weil dann die durch Datenkompression beschränkte Klangqualität zutage tritt.

Vor zwei Wochen hat der Bundesverband Phono im Hotel Hafen Hamburg seine jährliche Pressekonferenz abgehalten. Die Sonne scheint, aus dem Tagungsraum hoch oben geht ein herrlicher Blick über die Elbe – aber die Aussichten für die Branche sind düster: das zweite Jahr in Folge ein zweistelliger Umsatzrückgang bei CDs. Großes Gejammer. Böse, böse Brennerei! Die Anteilnahme der versammelten Journalisten hält sich in Grenzen. Aus vielen Fragen sind Vorbehalte herauszuhören. Waren CDs nicht immer schon zu teuer? Hat die Industrie nicht viel zu lange nur auf ihre Megaseller vertraut? In der Tat haben Untersuchungen ergeben: Die am meisten verkauften Titel werden auch am häufigsten kopiert, was unmittelbar einleuchtet, weil ihre leihweise Verfügbarkeit am größten ist. Wenn die Supersuperstars ein paar hunderttausend Euro weniger in der Tasche haben – rechtfertigt das den Schrei nach Gesetzesänderungen?

Von den kleinen Firmen jammert kaum eine übers Brennen. Ihren Interpreten kann die private Vervielfäligung bisweilen sogar helfen, eine gewisse Bekanntheit zu entwickeln, denn nicht jeder, der sich eine CD kopiert, hätte sie sich auch gekauft. Das Brennen eröffnet neue Möglichkeiten des sich Umhörens bei Freunden, die es früher so nicht gab, weil das Mitschneiden einer Platte auf Band mühevoller war. Man kann brennenderweise seinen musikalischen Horizont erweitern und muss es auch: weil das Radio einem schon lang nicht mehr hilft, Neues zu entdecken.


Abspielgeräte, die grönemeyergestört sind

Liebe Plattenbosse, liebe Radioleute, geht in München, Köln, Dresden, Frankfurt, Bremen, Berlin oder sonst wo einfach mal abends in einen Klub: Interessante Bands gibt’s im Moment reichlich, und nicht selten spielen sie vor vollem Haus. Die Menschen interessieren sich für Musik, und sie sind auch bereit, dafür zu bezahlen. Aber viele dieser Bands füllen keine Stadien, und ihre Songs führen keine Charts an, und deshalb werden sie im Radio nicht gespielt und sind in vielen Plattenläden nicht zu finden – das ist ein Grund zu jammern! Wie vielen Hörern kommt die besinnungslose Hit-Orientierung der Branche zu den Ohren raus? Darauf zu reagieren wäre so einfach – ihr müsst es nur tun: Öffnet euch für die Vielfalt der Musik!

Die Industrie scheint das jetzt begriffen zu haben, macht aber gleich den nächsten Fehler. Sie setzt nämlich nicht auf Begeisterung, Kennerschaft, Vermittlung und Kooperation, sondern auf staatlichen Zwang: Der Phonoverband fordert die Einführung einer Quote für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, 50 Prozent der Sendezeit für Neuerscheinungen und Produktionen aus Deutschland.

Die Konsumenten will man mit dem Kopierschutz zügeln. Mehr und mehr CDs lassen sich in Computern nicht abspielen. Aber längst kursieren im Internet Tipps, wie die verschiedenen Sperren zu knacken sind, etwa durch einen tangentialen Filzstiftstrich außen auf der Scheibe oder durch ein an richtiger Stelle aufgepapptes Post- it-Zettelchen. Mögen solche Verfahren das Risiko in sich bergen, die CD oder das Laufwerk zu beschädigen – Fantasiebegabte werden sich vom Weiterbrennen nicht abhalten lassen.

Weniger fantasiebegabt sind oft ganz normale Hörer, die ihren vermeintlich defekten CD-Player zum Händler bringen – weil er das neue Grönemeyer-Album nicht nimmt. Was sie nicht ahnen: Der Kopierschutz blockiert manches Gerät, das er nicht blockieren soll. Deshalb tragen so ausgerüstete CDs auch kein Gütezeichen mehr. Die Industrie hält ihre eigenen Standards nicht ein.

Ein norddeutscher Hi-Fi-Händler (sein Name ist der Redaktion bekannt) schritt nach der fünften Reklamation gereizt zur Selbsthilfe, indem er sich Kopien der kopiergeschützten CD brannte und ein Exemplar jetzt jedem gibt, der mit einem grönemeyergestörten Player bei ihm zur Tür hereinkommt.

Wenn ein großer Star – warum nicht Grönemeyer? – mal ein Zeichen setzen wollte gegen die Brennerei, er müsste das nächste Album nicht als CD, sondern nur als Schallplatte veröffentlichen. Sie zu kopieren wäre schon deshalb schwierig, weil die meisten Musikfreunde nicht wissen, wie sie ihren Plattenspieler an den Computer anschließen sollen – und selbst wenn es ihnen gelänge: Jede CD wäre als Kopie sofort identifizierbar. Überall würden sich die Plattenteller wieder drehen, und über den Umgang mit Tonträgern würde auf ganz andere Weise als bisher diskutiert. Denn die Brennerei ist ein rein digitales Phänomen. Eine Kopie der analogen Platte auf das analoge Band brachte ein Rauschen mit sich, das neuerliches Kopieren wenig ratsam erscheinen ließ. Weil die Musik auf der CD nicht als erstarrte Bewegung, sondern als abstrakte Zahlenreihe enthalten ist, kann sie wieder und wieder verlustfrei übertragen werden.

Daraus lässt sich ableiten: Auf einer CD gespeicherte Musik hängt viel weniger an ihrem Träger als auf einer Platte gespeicherte Musik. Viele Hörer haben das beim Systemwechsel gespürt. Man mag die CD als praktischer empfunden haben und ihre Länge als einen Segen (endlich eine Symphonie ohne Umdrehen!), aber das große Cover der LP, die Innenhülle, das Label, die Eingangs-, Auslauf- und Zwischenrillen, die Empfindlichkeit der Pappe und des Vinyls, ihre Fähigkeit, auch das zu speichern, was ihnen beim Gebrauch so zustieß – all das hat der Platte Individualität verliehen. Gerade im Artefakt offenbart sich Persönlichkeit.

Dies ist ein Grund, warum nagelneue HipHop-CDs mit künstlichem Knistern versehen werden oder warum alle jungen Elektronikmusiker auch auf Vinyl veröffentlichen: Die Musik aus Datenströmen wird körperlicher durch die Platte. Gebeten, den Unterschied zu beschreiben, sagt ein DJ vom Café Yoko Mono in Hamburg: Das sei wie Liebe machen mit oder ohne Kondom.

Die Platte hat sich nach dem Sturzflug, der vor zwanzig Jahren begann, als Nischentonträger nicht nur behauptet, ihr Absatz hat sich in Deutschland von 400000 Stück jährlich Mitte der Neunziger auf nun knapp eine Million Exemplare mehr als verdoppelt. Im Vergleich dazu die CD im vergangenen Jahr: 166 Millionen Stück, bespielte Musikcassetten gut 20 Millionen, DVD/SACD 300000. Große Firmen wie Sony beschäftigen inzwischen wieder Vinylbeauftragte, deren Aufgabe es ist, aktive Plattenhörer mit Neuerscheinungen zu versorgen. Ein paar DJs aus Stollberg bei Chemnitz, die seit je eigene Produktionen als Maxi-Singles herausbrachten, haben vergangenen Mai – unzufrieden mit der technischen Qualität – selbst ein Presswerk gegründet. Celebrate Records sitzt im Gewerbegebiet nahe Siemens und VW und hat gut zu tun. Demnächst will die junge Firma sogar ein neues, selbst entwickeltes Herstellungsverfahren präsentieren, das einen auf Vinyl bisher unerreichten Klang ermöglichen soll.

Es ist einigermaßen kurios: So ungewiss die Zukunft der neuen Tonträger ist, die mit Macht in den Markt gedrückt werden, so gesichert scheint derzeit das Überleben der guten, alten Schallplatte. Gerade jetzt, da das Ende der CD eingeläutet wird, fragen sich manche Konsumenten, ob sie nicht – statt erneut einer kostspieligen Versprechung aufzusitzen – lieber beim Bewährten bleiben sollten, dessen Mängel so klar sind wie seine Vorzüge.

Vielleicht wird sich bald auch irgendwo eine Bewegung von Puristen formieren, die ganz auf Tonkonserven verzichtet, so nach dem Motto: Wenn ich Musik hören will, gehe ich ins Konzert, denn das Erlebnis lässt sich nicht ersetzen, egal, von welchem System.

(c) DIE ZEIT 13.03.2003 Nr.12 von Ulrich Stock


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